Festigkeit und Freude

Patanjalis Yoga Sutra 2.46: Sthira Sukham Asanam

Hatha-Yoga ist ein praktischer Übungsweg. Der Körper ist dort unser Ausgangspunkt. Mit dem Körper machen wir Erfahrungen, und „der Körper lügt nicht“. Die körperliche Bemühung ist aber nicht alles beim Yoga. 

Für die traditionellen Hatha-Yogis war der Körper nicht nur unsere anatomische Form. Von innen nach außen definierten sie fünf Hüllen (Koshas). Der Yoga unterscheidet hier zwischen dem physischen Körper (Anna-Maya-Kosha), dem so genannten Energiekörper (Pranyama-Kosha), dem Emotionskörper (Mano-Maya-Kosha), dem Weisheitskörper (Vijnana-Maya-Kosha) und dem Glückseligkeitskörper (Ananda-Maya-Kosha). Analog zu den Hüllen aus Materie und Schwingung, die im Yoga den Körper ausmachen, gibt es sieben Chakren, die der Yoga vor Jahrtausenden dem Tantrismus (ab 2. Jahrhundert) entlehnte.  

Balance finden: dies ist das Ziel der Hatha-Yoga-Praxis. Dafür möchte dieser Übungsweg Polaritäten, Dualitäten umarmen. Der Ur-Yogi Patanjali (circa 2. Jahrhundert) beschrieb dies für die körperliche Yogapraxis mit dem Sutra: Sthira Sukham Asanam (Yogasutra 2.46). Patanjali erklärt dort eine gelungene Yogaübung oder -Haltung (Asana) als eine Brücke zwischen Polaritäten. Der Stand oder Sitz sollte immer fest und stabil sein. Wir möchten eine Verbindung zur Erde. Möglich, dass wir hierfür unsere Willenskraft und unser Ego einsetzen, wenn dies anstrengend wird – und Yoga sollte meiner Meinung nach immer auch etwas anstrengend sein. Wir wollen hier unsere Komfortzone erweitern, gelassener mit Stress umgehen lernen.

Von unseren Wurzeln möchten wir die Energie nach oben lenken, zu unserem Herzen, unserer Sensibilität, unseren Gefühlen. Aus der Verankerung entspringt Freude und Genuss, während wir unsere Verbindung mit der Erde und mit uns selbst spüren.

Die Idee, dass Anstrengung und Genuss gleichzeitig möglich ist, kann uns zunächst fremd erscheinen. Wir sind darauf konditioniert, dass wir uns anstrengen müssen (unangenehm), um damit etwas zu erreichen und zu bekommen (angenehm), á la „Erst die Arbeit und dann das Vergnügen“. Der moderne Mensch dreht sich damit oft im Kreis, denn unsere Belohnungs-Vergnügungen sind von kurzer Dauer.

Die Erfahrungen, die wir beim Yoga machen, lassen sich 1:1 auf unseren Alltag übertragen. Und plötzlich wirken die beiden gewünschten Qualitäten Festigkeit (alias Vertrauen, Klarheit, Konzentration) und Freude (alias Erfolgserlebnis, Rausch, Genuss) gar nicht mehr so gegensätzlich. Keinesfalls stehen sie sich im Wege, im Gegenteil, sie bedingen einander, geben einander Substanz. Durch das Verbinden von Festigkeit (sthira) und Freude (sukham) können wir das Licht des Yogas in unseren Alltag tragen, mit einer geerdeten Haltung, einem gleichmäßigen Atem und einem leichten offenen Herzen, das jeden Moment erlebt, vielleicht sogar genießt – das wäre wunderschön! 

Wörtliche Übersetzung: sthira = fest, stabil; sukham = angenehm, leicht, genussvoll ; asanam = Yoga-Haltung

Festigkeit und Freude – sthira sukham asanam