Patanjali Sutra 2.16: Heyam Dukham Anagatam

OM, OM, Ooooommm

Zukünftiges Leid im Voraus erkennen und vermeiden

Im zweiten Kapitel der Yoga-Sutras – hier geht es um den Übungsweg, um die Erkenntnis, dass wir mit Yoga besser mit Problemen unseres Alltags umgehen können und wie wir das am besten anstellen – gibt es eine ganz entscheidende Empfehlung: Wir können mit Yoga zukünftiges Leiden erkennen, bevor es eintritt und es mit unserer Übung, unserer Achtsamkeit abwenden. Was ist damit gemeint?

Yoga kann uns auf allen möglichen Ebenen die Augen dafür öffnen, wo wir mit unserem Verhalten in leidvolle Zustände und Situationen geraten. Unsere moderne Lebensweise zwischen Reizüberflutung und Stress einerseits und Bewegungsarmut andererseits programmiert Haltungsschäden, Verspannungen und Verletzungen vor. Auf der körperlichen Ebene vermeiden wir mit dem Üben der Asanas solche physischen Probleme, wie Arthrose und Bandscheibenvorfälle. Die Umkehrstellungen und Atemübungen im Yoga können unsere energetischen Zustände günstig beeinflussen.

Heyam Dukham Anagatam hat aber eine noch größere Tragweite. Für die Yogis entstehen alle leidvollen Zustände zuerst in unserem mentalen und emotionalen Wesen, bevor sie sich körperlich oder in einer Handlung/Situation manifestieren. Mit genug Yogapraxis werden wir für diese untergründigen Schwingungen aufmerksam, die uns begleiten und unsere Handlungen beeinflussen. Sie sind die wahren Ursachen für unsere Körperhaltungen, unsere Haltung zum Leben, das Aufkommen von Bedrängnis, Enge und Unzufriedenheit.

Ein einfaches Beispiel: Wenn ich mein fünfjähriges Kind für den Kindergarten anziehe, es dabei herumtrödelt und ich langsam merke, dass ich bereits zu spät für einen wichtigen Termin bin, werde ich ungeduldig. Die Realität („schon so spät“) entspricht nicht meiner Erwartung („ich will meinen Termin einhalten“). Unreflektiert, wird die Situation in Streit und Geschrei münden („immer bringst Du mich zum Wahnsinn!“). Als Yogin entwickle ich die Fähigkeit, meine Ungeduld zu erkennen, bevor sie wirklich da ist, sie zu akzeptieren und ihre Wut-Energie positiv umzuwandeln (Action, Um die Wette anziehen!!!), oder bewusst zu thematisieren („Du, ich werde gerade ungeduldig…“).

Es kann zunächst verblüffen, wie viele „alte Gedanken und Gefühle“, welche unbewussten Muster unser tägliches Handeln ungünstig prägen. Unser Ego zeigt sich dort. Wir möchten Anerkennung, der Verstand ist berechnend, sucht immer einen Vorteil, will mehr rausholen als reinstecken. Wir wanken umher zwischen Effektivität und Bequemlichkeit, unser Handeln wird unbewusst, die Komfortzone immer kleiner. Patanjali nennt diese psychischen Störprogramme die Kleshas: falsches Verstehen, Arroganz, Gier, unbegründete Abneigung und tief sitzende Unsicherheit. Werden wir sensibel für diese (völlig normal auftretenden) Schwingungen unseres Geistes, dann sind wir auf dem Weg, dieselben zu neutralisieren. Enttäuschungen bleiben uns erspart. In der Sichtweise des Yoga soll eine Handlung kein Karma, keine Spuren hinterlassen (heulendes Kind, entnervter Vater, siehe oben). Eine völlig konzentrierte Handlung, ohne Spur, ohne die Prägung von nicht dazu gehörenden Gefühlen und Gedanken, wird einfach und macht glücklich.