Die Antarayas – Hindernisse auf dem Yogaweg

Kleshas, Antarayas

Über neun Brücken musst du gehen

Ich liebe meine Yogapraxis. Sie hilft mir dabei, auch in extremen, anstrengenden äußeren Situationen – siehe Corona – bei mir selbst zu bleiben. Yoga ist tatsächlich mein bester Freund. Wie pflege ich diese Freundschaft?

Der Weg ist das Ziel. Was nicht bedeutet, dass Yoga keine Ziele hätte, oh doch, Ziele gibt es: Yoga sei Geschicklichkeit im Handeln, sagt die Bhagavad Gita. Das zur Ruhe Kommen der Gedankenturbulenzen. Mit Yoga kann und sollte zukünftiges Leid vermieden werden. Kaivalya oder Samadhi nennt der Ur-Yogi Patanjali in seinen Yoga-Sutras einen nicht mit Worten erklärbaren Zustand völligen Verstehens. Moksha, die Befreiung von allen psychischen Eindrücken, die endlose Zyklen der Wiedergeburten bei uns hinterließen. Mit Freude zu leben und majestätisch zu sterben, sagte einmal BKS Iyengar, einer der größten Architekten des heutigen Yogas.

Der Weg ist lang, und es warten nicht weniger als 9 Hindernisse. Ihre Ursachen haben diese in den Kleshas, den Trübungen unseres Geistes. Manche Hindernisse sind leicht zu überwinden, andere schon kniffeliger. Je empfänglicher wir für sie sind, desto schwerer fällt es uns, mit unserem Yoga Balance und Klarheit zu erreichen. Gut, wenn man diese Wegelagerer schon vorher kennt. Dann können sie einen nicht so überraschen und verwirren. Die weisen Yogis gaben uns vor vielen Jahrhunderten bereits eine Landkarte, auf der die verschiedenen Stolperfallen eingezeichnet sind.

Patanjali nennt im ersten Kapitel der Yoga-Sutras, im Sutra 1.30 neun Antarayas. Krankheit (Vyadhi), geistige Trägheit oder Sturheit (Styana), Unentschlossenheit (Samsaya), fehlende Umsichtigkeit aufgrund von Hektik und Hast (Pramada), Erschöpfung, Überforderung oder Faulheit (Alasya), Zerstreutheit (Avirati), Selbstüberschätzung und Fehldeutung (Bhrantidarsana), innere Unsicherheit, fehlendes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten (Alabhdabhumikatva), und last but not least Wankelmütigkeit, mangelnde Beharrlichkeit (Anavasthitatva). Auch die Hatha-Yoga-Pradipika (Leuchte des Hatha-Yogas, 14. Jahrhundert) greift das Thema Rahmenbedingungen einer erfolgreichen Praxis auf: ungünstig sei alles Zuviel und Zuwenig, schreibet der Verfasser Svatmarama. Zuviel Essen aber auch zu strenge Askese – beides hinderlich. Ebenso zu viel Geplauder auf dem Marktplatz, heute würde man sagen, zu viel Chatten und Twittern in den sozialen Netzwerken.

Einige dieser Empfehlungen sind offensichtlich. Bei anderem verbirgt sich dahinter eine zweite oder dritte Ebene. Logischerweise ist es ungünstig für das Üben von Asanas, wenn wir Fieber haben oder eine Sehnenzerrung. Dann sollten wir unbedingt unsere Übungspraxis darauf einstellen. Bei Fieber gar keine Asanas. Mit einem Stuhl üben, sanfte Atemübungen machen. Auf einer anderen Ebene gilt bei Patanjali auch jemand als krank, der keinen Zugang mehr zu seinem Körper und Geist hat, gar nicht mehr weiß, wie sie/er sich eigentlich wirklich fühlt. Zum Roboter geworden ist, der auf die Frage nach dem Befinden mit „Passt schon“ oder „Muss ja“ oder „weiß nicht“ antwortet und sich damit innerlich vor sich selbst verschließt.

Die Sturheit gilt im Yoga als geistige Trägheit – keineswegs sollte man sie mit Beharrlichkeit und Beständigkeit verwechseln – sie macht uns unflexibel und intolerant, Garantien für Leid. Viele kennen den Moment, an dem sie sich (mal wieder) fragen, warum mache ich eigentlich noch Yoga? Manchmal nach Jahren. Diese Frage kann sehr wertvoll sein, denn mit ihr erinnern wir uns von Zeit zu Zeit an das große Ziel, das wir mit dem Yoga-Üben verfolgen. Ich empfehle, da ganz einfache persönliche Worte zu finden, damit euer Sankalpa echt ist. Wenn das aber dauernd in den Zweifel mündet, wozu das denn jetzt gut sein soll, werden wir uns damit selbst aushebeln. Wie sagen noch die Zen-Mönche: Großer Glaube, großer Zweifel, große Entscheidung. Yoga funktioniert mit steter kontinuierlicher Übung und Dranbleiben – daran erinnert uns Patanjali auch in den Yoga-Sutras. Dann bemerkt man plötzlich, dass sich unsere Wahrnehmung und Sicht auf etwas verändert hat, bestimmte Situationen uns nicht mehr so stressen und überfordern. Wann und wie das genau passiert unterliegt aber nicht unserer Kontrolle.

Yoga klappt nicht mal so eben, nebenbei („…schnell noch ein paar Sonnengrüße, zwischendurch klingelt das Telefon und ich denke die ganze Zeit an meinen nächsten Termin, das wird kaum etwas bringen). Multi-Tasking ist im Yoga gar nicht gefragt. Stattdessen lautet die Botschaft: Nimm dir Zeit. Mach weniger. Was nicht bedeutet, dass Yoga uns träge macht, natürlich! Die Yogis sehen alle Phänomene als Produkte der so genannten Gunas: Tamas (Trägheit, schwarz), Rajas (Bewegung, rot) und Sattva (Licht, weiß). Sehen wir die Dinge zu rot geraten wir in eine Hyperaktivität, die nichts bringt. Wir zerstreuen uns und machen am Ende gar nichts mehr richtig. Sehen wir die Dinge zu schwarz, sinken wir in uns zusammen und werden depressiv. In der Balance von Trägheit, Festigkeit, Stabilität einerseits und Bewegung, Freude, Leichtigkeit sehen wir klar, werden ruhig und wach.

Ein großes Hindernis auf dem Yogaweg ist die Selbstüberschätzung und die Fehleinschätzung. Wir haben etwas falsch verstanden, versuchen, bei Youtube den Kopfstand zu lernen; wir fallen auf ein falsches Bild von uns selbst und der Realität herein und wundern uns dann, wenn das gewünschte Resultat ausbleibt: „Wrong technique – no benefit“ sagte einst der große Yogameister Sri Pattabhi Jois. Andererseits sollten wir uns beim Yoga auch nicht unterschätzen, stattdessen sollten wir uns etwas zutrauen, neugierig bleiben, offen bleiben, ausprobieren und nachspüren.

Die gute Nachricht: diese Hindernisse sind normal. Genauso wie die Kleshas normal sind. Das Üben von Yoga hält sie in Schach, macht sie zahm. Wir wollen nichts ausrotten, sondern in eine Balance finden. Wenn wir dranbleiben, wird es nie langweilig. Allein können wir selten die Kleshas und Antarayas dominieren. Es hilft, sich von Anderen, die den Yogaweg schon etwas länger gegangen sind, inspirieren zu lassen.

Hier eine kleine Checkliste:

Gut für Yoga:

Beständigkeit, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, planvolles Handeln, Muße, Anpassungsfähigkeit, geistige Flexibilität und Spontanität, Freude beim Üben

Schlecht für Yoga:

Sturheit, geistige Trägheit, Intoleranz, Fehldeutung, falsche Vorstellungen, Selbstüberschätzung, Selbstunterschätzung, Zweifel, Zerstreutheit, Multi-Tasking, Überforderung, Unterforderung (beides produziert negativen Stress), Ungeduld