Kraft und Hingabe

Anjaneya

Mit dem Strom schwimmen. Kreativität fließen lassen. Den Spagat wagen.

Dezember 2021: Pandemie, vierte Welle. Das Viren-Imperium schlägt zurück. Yoga kann auf verschiedenen Ebenen dabei helfen, mit der daraus entstehenden Unsicherheit umzugehen.

Zuerst einmal können wir mit Yoga innere Ruhe finden. Aber es geht noch weiter: Yoga kann unsere Anpassungsfähigkeit verbessern. Anpassungsfähigkeit ist eine wertvolle Eigenschaft unseres Menschseins. Ohne Anpassungsfähigkeit wären wir heute nicht mehr da, sie hat unsere Evolution ermöglicht. Wie heißt es so schön: die Klügere gibt nach. Gerade jetzt ist diese Fähigkeit wieder ganz entscheidend. Anstatt zu hadern mit dem was ist, können wir eine annehmende, nachgebende Haltung einnehmen, mit dem Strom schwimmen, mit dem Flow gehen. Damit spart man Energie. Wir reiben uns nicht mehr so an den Gegebenheiten auf. Und wo kommt das nun im Yoga vor?

Angelehnt an die Lehre des Ayurveda, bezieht sich auch der Yoga auf das Konzept der Elemente oder Aggregatzustände

Die traditionellen Yogis waren hellsichtige Beobachter. Sie fanden im Zusammenspiel von Natur und Mensch, im Schwingen von Makro- und Mikrokosmos immer wieder die fünf Elemente vor: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther (Raum). Jedes Element hat spezifische Eigenschaften.

Qualitäten wie Flexibilität, Hingabe, Klarheit, Kreativität, Geduld, im-Fluss-sein, deuten auf das Element Wasser, den Aggregatzustand flüssig hin. Auch die Anpassungsfähigkeit ist eine Eigenschaft, die dem Wasser zugesprochen wird. Wasser ist einerseits weich, dann aber auch schwer. Spannend, daraus abzuleiten, dass man für Beweglichkeit und Hingabe also auch eine innere Festigkeit braucht.

In der Sichtweise des Ayurvedas und Yogas ist die Hüfte der Körperteil, der das Element Wasser repräsentiert.

Das dazu gehörende Chakra heißt Svadisthana Chakra (übersetzt: die Wohnung des Selbst). Verortet wird es im Bereich des Kreuzbeins, weswegen man es auch das Sakralchakra nennt. Es gilt als das Energiezentrum der Künstler*innen, macht uns intuitiv und schöpferisch. Ist es blockiert, kommen Angst vor Veränderung und Depression – so die Theorie.

Also, sagt der Yoga, können wir unsere (geistige, empathische) Anpassungsfähigkeit fördern und dann noch unsere Intuition und Kreativität, wenn wir beim Yoga in das Element Wasser, befindlich in unserem Hüftbereich eintauchen.

Nehmen wir einen bekannten Hüftöffner: Anjaneyasana. Dies ist eine ganze Serie von Asanas, die dem Affengott Hanuman (alias Anjaneya) gewidmet ist. Es sind Variationen des Spagats. Haha, Spagat, auch wieder so ein symbolträchtiges, metaphorisches Wort: „Es gelang ihr der Spagat zwischen Beruf und Familie, Risiko und Chance, x und y“ Wie geht das? Mit Anpassungsfähigkeit, Improvisation, Kreativität.

In der indischen Mythologie ist Hanuman ein Symbol für absolute Hingabe. Doch als junger Halbgott war Hanuman ein echter Strolch. Da er sich seiner überdimensionalen Kraft nicht bewusst war, ging da bei ihm einiges zu Bruch. Als er schließlich die Sonne vom Himmel stahl, weil er sie für eine leckere Orange hielt, da riss den anderen Göttern der Geduldsfaden. Sie verwünschten ihn, so dass er seine immense Kraft vergaß. Erst als Hanuman dann dem König Rama dabei half, seine geliebte Frau Sita aus den Klauen des Dämonengottes Ravana zu befreien, kam die Kraft zurück, erzählt das indische Epos Ramayana (4. Jhdt v. Chr.). Ergo: Echte Kraft entsteht, wenn wir uns hingeben, unsere Ziele einer höheren Macht widmen.

Als ich ein Teenager war, galt so etwas wie angepasst sein, sich hingeben, mit dem Strom schwimmen überhaupt nicht als erstrebenswert, im Gegenteil. Angepasst waren die Anderen, die Spießer. In der BRD der frühen 1980er-Jahre gab es (für uns Anti-Spießer) wenig zu befürchten, also Hauptsache, nicht angepasst sein. Es war meine Antwort auf gesellschaftlich offene Fragen, den Zeitgeist, die Leitkultur. Ich rebellierte nicht gegen reale Gegebenheiten sondern gegen Meinungen, Konzepte, Entwürfe, mit anderen Worten Fiktionen. Mein Nicht-Angepasstsein war dementsprechend auch eine (Selbst-)Täuschung und irgendwie auch dogmatisch und zwanghaft.

Fragt man Anfänger*innen, warum sie Yoga üben wollen, dann kommt meistens die Antwort: ich möchte beweglicher werden. Dehnübungen sind aber nur ein Teil der Yoga-Praxis. Lassen wir dabei andere Eckpunkte wie Kraft, Ausdauer und vor allem Elastizität außer acht, dann ist die nächste Verletzung bereits vorprogrammiert. Damit der starre Iliopsoas ein wenig nachgibt, brauchen wir Geduld und Beharrlichkeit. Wir möchten uns in eine Yogahaltung hineingeben – in unserem Maß, voller Demut. Auch wieder so eine Qualität. Demut ist, wenn wir akzeptieren, dass nichts selbstverständlich ist. Davon ausgehend möchten wir uns in unser Leben, in jeden Moment hineingeben. Aus sanfter Hingabe entwickeln wir wahre Stärke.