Yoga-Turner, Yoga-Gymnastinnen – die Anfänge des modernen Hatha-Yogas

Yoga und Fitness

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Im Yoga ging es noch nie darum, wo etwas herkommt, sondern was man daraus macht. Dies ist ein seit Jahrtausenden fortschreitender Prozess, von den Wurzeln des Yogas bis heute.

Die Wurzeln des Hatha-Yogas liegen im Mittelalter. Während der britischen Besatzung Indiens geriet er fast völlig in Vergessenheit, galt als heidnisch und rückständig. Ironischerweise waren es die Umwälzungen der Moderne: der Kapitalismus und der Kolonialismus wie auch die Naturwissenschaften, die den Yoga nach jenem dunklen Zeitalter wieder belebten und danach global triumphieren ließen.

In seinem Buch „Yoga Body beschreibt der Autor Mark Singleton dieses Comeback des Hatha-Yogas und seine weltweite Entwicklung, seinen Siegeszug in die Popkultur. Singletons Quellen dafür sind Fitness- und Yoga-Handbücher, die zwischen dem späten 19. Jahrhundert und 1935 in Indien, England und den USA herauskamen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts machten verschiedene damals neue Fitness-Trends weltweit Furore: Es waren die Übungen von Turnvater Jahn. Das Bodybuilding des Preußen Eugen Sandow und die Gymnastik des Dänen Niels Bukh. Eugen Sandow ging 1904 und 1911 sogar auf Welt-Tourneen, die ihn nach Indien brachten. Denn die Begründer dieser Trends machten ihre Übungen medial einer breiten Öffentlichkeit zugänglich, sie publizierten ihre Methoden.

Eine Weiche in dieser systematischen Ausbreitung der neuen Fitness stellte eine bahnbrechende neue Technologie: die damals noch junge und bald omnipräsente Fotografie. Nicht nur die Trainingspläne strammer Turner und Bodybuilder wie bereits erwähntem Eugen Sandow kursierten schon bald weltweit in Handbüchern und Übungsheften, sondern auch Bilder von Hatha-Yogis, die Asanas vorführten. Auf diese Welle gelangte also der Hatha-Yoga und verbreitete sich mit ihr, wenn man so will zunächst als Beilage. Teil ihres Appeals bezogen die im Zuge der neuen Sport-Begeisterung aufkommenden Yoga-Manuale daraus, dass sie die Yoga-Asanas in direkte Beziehung zu modernen Fitness-Übungen setzten und sie so aus dem Kontext historischer hinduistischer Schriften, wie der Siva Samhita und der Hatha Yoga Pradipika, herausnahmen. So blendeten sie esoterische Elemente aus, die für die Menschen der Moderne irritierend geworden wären. Stattdessen dominierte dort die Disziplin des körperlichen Hatha-Yogas.

Waren klassische, jahrhundertealte, gar jahrtausendalte Yoga-Abhandlungen wie die Yoga-Sutras, die Siva Samhita und die Hatha Yoga Pradipika noch einer kleinen Elite vorbehalten, so erzielten die bebilderten Yoga-Manuale eine viel größere Breitenwirkung. Nur wenige Yoga-Posen werden in den traditionellen Schriften des Yogas überhaupt aufgeführt. Es sind vor allem Sitzhaltungen, welche die Übenden in die Stille der Meditation bringen sollen. Das Leben in Indien war vor zweitausend Jahren natürlich von täglicher harter Anstrengung geprägt, es gab da wenig Bedarf für weitere körperliche Übungen.

Indes, vom indischen Mittelalter an, waren recht viele Yogis militante Asketen, die als spirituelle Söldner im Dienst lokaler Fürsten standen. Singleton betont, dass diese Mönche, die man Nathas oder Naths nannte sich neben ihrer spirituellen Praxis mit Körperübungen stählten, um das asketische Leben zu meistern und kampfbereit zu sein. In Indien entstand zu diesem Zeitpunkt bereits die Assoziationskette von Yoga und körperlicher Fitness.

Rund 500 Jahre später sahen britischen Besatzer in den herum marodierenden paramilitärischen Yogi-Gruppen eine Bedrohung ihrer Handelsrouten, weswegen sie die Yogis entwaffneten und in den Städten ansiedelten, wo sie sich als Straßenkünstler durchschlugen. Dort provozierten sie die indische Mittelschicht und faszinierten Reisende. Ganz neu war manchen westlichen Beobachtern diese Verbiegungskunst nicht mehr, denn sie ähnelte den Shows der „Schlangenmenschen„, Akrobaten, die auf Jahrmärkten und Festen auftraten und Fakiren, die durch glühende Kohlen liefen und auf Nagelbrettern schliefen, dies war damals ein beliebtes Entertainment in England und den USA. In einer anderen Nische bedienten diese Yogis eine Sehnsucht nach Übersinnlichkeit, welche in den okkultistischen, spiritistischen und theosophischen Zirkeln der Metropolen ihre Blüten trieb. Allgemein aber galten Hatha-Yogis in diesem so genannten dunklen Zeitalter der Yoga-Geschichte als kriminell und schmutzig, als rückständig und unmenschlich.

Dann kam eine Wende. In den Industrieländern des Westens entstand eine Sehnsucht nach Ganzheit und Balance. Sie ebnete den neuen Körperertüchtigungs-Trends der ausklingenden Belle Epoque den Weg. Die Industrialisierung hatte die Menschen zunehmend vom Körper entfremdet, der Zeitgeist verlangte nach einer Regeneration, einer Rückkehr zum Körper. Es entstand ein neuer Ethos des so genannten „muskulären Christentums“ einer Synthese aus Körperstärke, Moral, Patriotismus, Sportsgeist und Glauben, der sich in der britischen Kolonialherrschaft in Indien ausbreitete, via Institutionen wie dem Militär, den Schulen und Universitäten, dem Christlichen Verein junger Männer (YMCA) oder der Heilsarmee. Quasi durch die Hintertür fanden die Übungen des Hatha-Yogas ihren Weg in die Programme. Gleichzeitig suchten indische Nationalisten in der Fitness-Kultur einen Weg zur Stärkung der indischen Identität. Im Zuge des indischen Unabhängigkeitskampfes wurde der Spirit der mittelalterlichen Hatha-Yogis zum Paradigma.

In Europa und Amerika war man verblüfft und machte sich zunächst über diese ganzen Streckungen und Verdrehungen lustig. Doch schon bald bedienten sich Turner, Bodybuilder und Hatha-Yogis aus einem immer mehr ineinander fließenden Fundus von westlicher Gymnastik und indischer Körperkunst. Auf der einen Seite integrierten indische Hatha-Yogis turnerisches Training aus Liegestützen und Gewichtheben. Auf der anderen Seite übernahm die „spirituelle Gymnastik“ protestantischer Frauenverbände den rhythmischen Atem, die Qualität des Vinyasa vom Hatha-Yoga.

„Yoga im gymnastischen Sinn gab es bis dahin in Indien nicht“, zitierte der „Spiegel“ den Indologen Axel Michaels. „Der „Turnvater“ Jahn habe zum Yoga, wie es zahllose Studios heute betreiben, wohl mehr beigetragen als die asiatischen Asketen. Indien lieferte aber im Gegenzug den Überbau: Nur im vermeintlichen Mutterland der Spiritualität ließ sich die biedere Gymnastik zu einem geistvollen Mysterium veredeln.

Die Schlüsselrolle in der Entwicklung des modernen Hatha-Yogas nimmt der indische Yoga-Guru Tirumalai Krishnamacharya ein, der von 1888 bis 1989 lebte. Krishnamacharya gilt als der Vater des modernen Hatha-Yogas.

In den 1930er-Jahren lernten in seiner Yoga-Schule in Mysore im Bundesstaat Karnataka verschiedene spätere Yoga-Meister, die als Pioniere den Yoga in den Westen tragen sollten: namentlich waren dies Krishnamacharyas Schwager BKS Iyengar, neben dem Ashtanga-Yoga-Begründer Pattabhi Jois, außerdem die Russin Eugenie Peterson, bekannt als Indra Devi und nicht zuletzt Krishnamacharyas Sohn TKV Desikachar.

Krishnamacharya wurde 1888 in einem kleinen Dorf im Süden Indiens geboren. Seine Familie gehörte zur Kaste der Brahmanen. Krishnamacharyas Vater war ein Gelehrter in der hinduistischen Linie der Vaishnavas, der Anhänger des Hindugottes Vishnu. Der Sohn, außerordentlich begabt, wurde sein Schüler und absolvierte in jungen Jahren an verschiedenen Instituten sämtliche Disziplinen der indischen Philosophie, genannt Darshanas. Krishnamacharya hätte fortan ein sicheres Leben als respektierter Pandit führen können. Alle diesbezüglichen Angebote schlug er jedoch aus, weil er sich, getragen von Visionen, die er hatte, zum Yoga hingezogen fühlte. Im Süden Indiens war von der Tradition des Yogas aber kaum mehr etwas übrig geblieben, die Tradition des Yogas war dort nahezu verloren gegangen.

Auf der Suche nach einem Lehrer unternahm Krishnamacharya 1914 eine Reise zum „Dach der Welt“, nach Tibet. Die Mühen dieser Reise kann man sich heutzutage kaum vorstellen. Monate lang legte er weite zu Fuß im Schnee durchs Gebirge zurück. Schließlich kam er unweit des mythischen Berges Kailash bei seinem Guru an. Dieser hieß Rama Mohana Brahmacari. Bei jenem Rama Mohana Brahmacari lebte Krishnamacharya knapp acht Jahre in völliger Abgeschiedenheit. Dann entließ ihn sein Lehrer mit der Weisung, in die Gesellschaft zurückzukehren, zu heiraten und die Botschaft des Yogas zu verbreiten.

Krishnamacharya folgte dieser Anweisung. 1922 ging er nach Mysore, konnte dort jedoch nicht vom Yoga leben und arbeitete in einer Kaffee-Plantage. Doch mit der Zeit wurde er als Yogi und Gelehrter bekannt. Der Maharaja von Mysore engagierte ihn für Vorträge in seinem Palast, ernannte ihn danach zum Chef der Yoga-Sala des Palasts, die er 1933 in einer ausgedienten Gymnastikhalle eröffnete. Neben der Yoga-Sala gab es dort noch andere sportliche Angebote, darunter Bodybuilding, mit denen Krishnamacharya bei den zum Palast gehörenden Schulkindern konkurrierte. Um sie zu gewinnen, orientierte Krishnamacharya seine Yoga-Programme an westlicher Gymnastik. Sie waren stark auf Performance ausgerichtet, um bei regelmäßigen Aufführungen von Yoga-Posen zu beeindrucken. Weswegen ihn einer seiner besten Schüler verließ – und in Verlegenheit brachte. Er war ein unverzichtbarer Star seiner Aufführungen gewesen. Die Lücke füllten der damals tuberkulöse Teenager BKS Iyengar, den Krishnamacharya für die Aufführungen zu einem exzellenten Yoga-Performer drillte. Ebenso der Schüler Pattabhi Jois, der täglich einen Fußmarsch von acht Kilometern zurücklegte, um am Unterricht teilnehmen zu können.

BKS Iyengar war hernach ein Genie darin, die Methodik des Yogas einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei ließ auch er die spirituelle Seite des Yogas erst einmal weg, zugunsten der methodischen, anatomisch präzisen Darlegung. Damit traf er einen Nerv. Iyengar schrieb 1966 mit „Licht auf Yoga“ das erfolgreichste Yoga-Buch aller Zeiten. Was es so erfolgreich machte war, dass er erstmals klare Anleitungen zu den Yoga-Körperhaltungen gibt, die man auch zu Hause nachmachen konnte.

Heute gilt als Fakt, dass der Yoga ohne die westliche Fitness-Kultur im frühen 20. Jahrhundert nie zu einem globalen Phänomen und Bestandteil der Popkultur geworden wäre. Dies ist der Konsens bei (westlichen) Indologen, Autoren und Journalisten. Schwingt da vielleicht auch eine eigene Schulterklopferei mit? Haha, ohne uns wäre ja sowieso nichts daraus geworden, die mageren Asketen des Hatha-Yogas waren einfach zu unsexy. Erst mussten mal ein paar fesche Preußen wie Jahn und Sander zeigen, wo es langgeht. Viele heute gängige Yoga-Asanas gehen tatsächlich auf die europäische Fitness-Kultur zurück. darunter der Handstand, der Liegestütz, die Kniebeuge und der Spagat. Ergo haben die im Westen bekanntesten 30 oder 40 Yoga-Posen tatsächlich einen Bezug zur Turnerei und dem Bodybuilding.

Ist das denn nun schon alles, was der Yoga zu bieten hat? Seit einigen Jahren gibt es in der Yogaszene eine Diskussion um das Thema kulturelle Aneignung. Was ist damit gemeint? Menschen übernehmen die Kultur: sagen Mode, Sprache, Rituale, Trainingsprogramme von Anderen, entreißen sie ihrem Kontext und nutzen sie für ihre Zwecke. Yoga ist heutzutage ein relevanter Wirtschaftsfaktor. Rund 9 Millionen Deutsche sollen angeblich Yoga machen. Zwischen Yoga-Unterricht, Yoga-Kleidung, Yoga-Reisen, Yoga-Workshops, Events et cetera wird mit Yoga heute Geld verdient.

In meinem Yoga-Unterricht hat es immer mal wieder neue Schüler und Schülerinnen gegeben, die in der ersten Stunde zu mir sagten: Ich kenne mich aus, ich mache schon seit 20 Jahren Yoga. Und als ich dann nachfragte: Kennst du die Yoga-Sutras von Patanjali? Kennst du die Ujjayii-Atmung? Mula Bandha? Da gab es große Augen und manchmal auch ein gequältes Lächeln. Schon schade, oder? Stellt euch vor, ein Musiklehrer kommt rein und sagt: ich zeige dir jetzt das Werk von Wolfgang Amadeus Mozart. Und dann holt er die Kleine Nachtmusik raus und als Bonus noch die Papagena aus der Zauberflöte und dann sagt er: so das war Mozart! Und wenn man ihn fragte, ja, was ist denn mit den Klavierkonzerten oder gar dem Requiem, dann hieße es, jetzt mach mal halblang, das hier ist der pure Mozart, was willst du?

Ja, Yoga ist glaube ich ein schier unerschöpfliches Thema, eine immer noch nicht erschlossene Landkarte. Zum Beispiel beschäftigt die Fachleute immer noch die Frage Wie viele Yogahaltungen, genannt Asanas gibt es eigentlich? Mythologisch sollen es 84 Millionen sein. Die Encyclopaedia (Enceyclopedia) of Traditional Asanas listet 900 Posen. BKS Iyengar erläutert in „Licht auf Yoga“ 200 Stellungen – es ist zweifelhaft, dass sie alle europäischen Ursprungs sind. Der moderne Yoga ist also ein sehr komplexes, aus verschiedenen Fäden gewebtes Netz.

Und welches Netz webte vor hundert Jahren Sri Tirumalai Krishnamacharya? Einerseits gab er seinen Schülern Turnübungen wie den Handstand, die Brücke und die Kerze auf. Diese verband er jedoch mit yogischen Atemtechniken, dem Vinyasa und mit dem gezielten Anspannen tieferer Muskelschichten zum Lenken der Energie, den yogischen Bandhas oder einer gelenkten Konzentration durch das Zurücknehmen der Sinne, genannt Prathyahara. Dies sind Methoden, die in klassischen indischen Yoga-Texten erläutert werden.

Auch der Einzug des Yogas in die Popkultur wurde also von Vereinnahmung begleitet, und das ist ja nun mal auch ein Merkmal jeder Popkultur. Die Jazzmusik gilt als US-amerikanisches Weltkulturerbe, auch wenn der Bandleader Duke Ellington in seinen Stücken die Harmonien französischer Komponisten wie Claude Debussy verwendete. Ergo geht es, auch in der Evolution des Yogas nicht so sehr darum, wo etwas herkommt, sondern was jemand daraus macht, wie jemand es kreativ umfunktionierte und etwas Einzigartiges daraus erschuf.