Patanjalis Citta: Kamera, Geistsee, Aufmerksamkeit, Bewusstsein

Dunkler Kristall

Wenn wir heute über Yoga sprechen, dann meinen die meisten damit Körperübungen, um die Haltung zu verbessern und Beschwerden zu lindern. Das ist in unserer stressüberladenen Zeit völlig angemessen. In der klassischen Yogaperiode, vor rund zweitausend Jahren, war dieser Aspekt des Yoga-Übens nebensächlich. Die Menschen lebten damals mit hohem körperlichen Einsatz und mit viel weniger emotionalem Stress als heute. Erst mit der industriellen Revolution und dem Globalismus durch die Kolonisierung ergaben sich im Hatha-Yoga die Schnittstellen mit den Bewegungslehren von Turnen, Tanz oder Bodybuilding, die unsere heutige Yoga-Übungspraxis bestimmen.

Im Hatha-Yoga machen wir Erfahrungen mit dem Körper, der Körper ist unser Tempel, unser Instrument. Hatha-Yoga ist nicht verkopft. Kommen wir mit den Übungen des Yogas in unserem Körper etwas mehr zur Ruhe, in die Balance, dann entsteht der Raum in uns, in dem wir die Bewegungen unseres Geistes, die Bewegungen in unserem Wahrnehmungsraum reflektieren können. Den Geist zu beobachten, den Geist zu entspannen ist schwerer als den Körper zu beobachten und zu entspannen. Deswegen beginnt der Hatha-Yoga mit dem Körper und geht dann erst weiter zum Wahrnehmungsraum des Geistes. Die Yogis nennen diesen Raum die Citta. Mit Citta meint der Yoga so etwas wie den Geist als Manifestation des Bewusstseins. Citta ist unser Zentrum für das Denken, Fühlen und sich-etwas-Vorstellen, für Absicht und Wille, für unser Gemüt und unsere Vernunft, für den nüchternen Verstand, die ausschweifende Fantasie und das wache Bewusstsein, ein Ort aller inneren Vorgänge.

Überlegt euch doch mal, wie ihr selbst euren eigenen Wahrnehmungsraum empfindet. In dieser Sphäre geht Yoga aus dem wissenschaftlichen Bereich heraus, es geht hier nicht mehr um Muskeln, Sehnen oder Faszienzüge, sondern um etwas subjektiv Erlebbares. BKS Iyengar beschrieb die Citta wie eine Digitalkamera mit Bildschirm, ein Instrument, das empfängt und überträgt. Es könnte aber auch ein energetischer, schwingender ozeanischer Raum sein, der sich ständig bewegt und ausrichtet.

Es gibt in der Yogaphilosophie fünf Zustände (Vrittis) dieses Wahrnehmungsraumes namens Citta, fünf Arten mentaler Projektion, die ihn erfüllen: Diese fünf so genannten Vrttis sind: Pramana = Richtige Wahrnehmung, Viparyaya = Falsche Wahrnehmung, Vikalpa = begriffliches Denken, (von etwas denken, das gerade nicht da ist), Nidra = Tiefschlaf und Smrti = Erinnerung. Man kann sie sich wie fünf Modi, Optionen auf einem Panel vorstellen, eine ist immer aktiv, oft gehen sie im Bruchteil einer Sekunde ineinander über. Die Vrittis sind weder gut noch schlecht, es hängt vom Kontext ab.

Rund 90.000 Gedanken laufen am Tag in den Vritti-Kanälen durch unseren Wahrnehmungsraum namens Citta. Viele sind Gedankenschlaufen. 70% der Geistesbewegungen, die unsere Reaktionen und Handlungen steuern, sind unbewusst, fest installierte Programme. Wir handeln wie Roboter mit schön ausprogrammierter Feinmotorik. Natürlich ist das Abspeichern im Unbewussten sehr praktisch, wenn man Gitarre spielen will oder mit dem Auto auf die Autobahn fahren oder arbeiten, was man gelernt hat und so weiter. Auf dieser Festplatte befindet sich aber möglicherweise auch manche „Malware“, sind Informationen aus unserer Kindheit gespeichert („die Welt ist gefährlich“, „ich schaffe das ja doch nicht“), die unseren Wahrnehmungsraum trüben, unser Handeln inkongruent machen, uns sabotieren.

Die Yogaphilosophie benennt diese leidvollen Spannungen unseres Geistes mit: Unwissenheit (Avidya: wir wissen nicht, wer wir eigentlich sind), falscher Stolz (Asmita: wir verwechseln unser Ego, unseren Verstand mit unserem Sein), Anhaftung (Raga: wir werden unflexibel, durch ständiges Verlangen, Perfektionismus, Zwanghaftigkeit), unbegründete Abneigung (Dvesa, die Kehrseite der Anhaftungsmedaille) und Unsicherheit (Abhinidvesa: Angst: zu sterben, nicht richtig zu sein, etwas zu verpassen, das Falsche zu tun). Diese Trübungen bringen Staub auf die Linse der Kamera, einen Ölfilm auf unseren Geist-Ozean.

Im Alltag mischen sich die unbewussten Inhalte unseres Unterbewusstseins ständig in unsere Wahrnehmung. Was wir sehen und denken ist nur unsere Vorstellung der Welt. Die Welt spiegelt unseren getrübten Geist wider. Wenn wir lachen, lacht die Welt, wenn wir weinen oder zornig sind, sehen wir im Außen auch nichts anderes als dies.

Mit Yoga machen wir die Erfahrung, dass der Körper und der Geist nicht voneinander getrennt sind. Genauso wie wir die Abläufe unseres Körpers bewusster wahrnehmen, möchten wir hier das Panel unserer Vrittis sehen und wissen, was da gerade abläuft. Schritt Nummer Eins auf diesem Weg ist, den Körper in Balance zu bringen. Wenn dies gelingt, werden die Gedanken zur Ruhe kommen, ruhig wie ein stiller See, in dem der Mond sich spiegelt. Um kraftvoll und sicher zu handeln, möchten wir unseren Wahrnehmungsraum, unseren Geist neutralisieren, alle Voreinstellungen abschalten. Mit dem Üben von Yoga, der Einhaltung seiner Sichtweisen (Yamas und Niyamas), dem körperlichen Üben (Asana) und dem yogischen Atmen (Pranayama) kommen die Gedanken zur Ruhe, die Trübungen werden als solche sichtbar und können geklärt werden. Dann können wir die Welt, die Anderen, unser Leben so wahrnehmen wie dies wirklich ist, unser Wahrnehmungsraum ist klar wie ein Kristall.

Wichtig für mich beim Üben ist zu erkennen, dass dieses System: aus der Citta, den Vrittis und den Kleshas jenseits von gut und böse ist. Es gibt hier keinen Himmel und keine Hölle, keine Gebote, sondern Empfehlungen. Ein Yogi setzt sich selbst Grenzen, bevor andere dies (für ihn) tun. Gut-Böse-Systeme, ob nun religiös oder politisch gefärbt, produzieren einfach immer mehr Kleshas. Natürlich sind Trübungen unausweichlicher Bodensatz des Menschseins. Sie zu bekämpfen führt ins Labyrinth, da hilft eher der Humor. Wenn wir die Kleshas klären, können wir besser sehen, tiefer schauen. Manchmal merken wir, dass wir schon längst da sind. Mit Yoga können wir Beobachter*innen werden.