Freiheit und Verantwortung – Patanjalis Yamas

Patanjali strukturierte seinen Yogaweg in acht verschiedene Übungs- und Bewusstseins-Felder. Es sind keine Stufen, man kann sie sich wie Blätter einer Blüte vorstellen.

Jede Disziplin beeinflusst die anderen. Einerseits sind sie Ausgangspunkt, andererseits Ergebnis unserer Praxis. In den Yoga-Sutras hängt alles mit allem zusammen. Wir können alle Übungs- und Bewusstseinsfelder mit nur einer Disziplin (nehmen wir die Asanas, Yogastellungen) durchdringen. Die acht Blätter dieser Lotusbblüte wirken in jeden einzelnen Punkt hinein. Das macht dieses System sehr flexibel und vielseitig anwendbar.

Yoga ist keine Religion, Yoga ist ein offenes, sich ständig erneuerndes System

Sichtweisen des Buddhismus und des Hinduismus haben die Yoga-Sutras beeinflusst, aber nie bestimmt. Im Yoga geht es nicht darum, etwas zu glauben, es gibt kein richtig und falsch, keine Sünde, keine Vorschriften, nur Empfehlungen. Das Schlimmste was passieren kann, wenn wir sie nicht befolgen ist, dass wir in unserer Praxis, in unserem Leben stehen bleiben.

Asanas und Pranayama sind für sich schon sehr effektiv, denn der Körper und der Atem können alles zeigen.

Sie können Metaphern jedes Lebensthemas sein. Grundidee hiervon war ursprünglich, dass ein Mensch, der zum Beispiel ständig Rückenschmerzen hat, davon so besetzt wird, dass er sich auf nichts anderes mehr konzentrieren kann. Die Asanas geben dem Körper Gesundheit. Pranayama kann dem Geist Ruhe und Gelassenheit geben. Gesundheit ist Reichtum, geistiger Friede ist Glück. Beides bildet einen guten Ausgangspunkt für Konzentration und Meditation. Wenn wir uns irgendwann schon beim Üben der Asanas und der Atemübungen auf die Sichtweisen Patanjalis einlassen und ausrichten, kann dies unserer Praxis eine weitere Dimension geben: Sie wird unerschöpflich und geht über reine Gymnastik und Fitness-, über das Üben mit dem Ego hinaus.

Die Yamas: Über den Umgang mit unserer Umwelt und unseren Mitmenschen

Mit den Yamas stellt Patanjali heraus, welche Lebensführung, was für Prinzipien und Prioritäten uns auf dem Yogaweg weiterbringt: Ahimsa (Gewaltlosigkeit), Satya (Wahrhaftigkeit), Asteya/Aparigraha (Nichts haben wollen, was uns nicht gehört) und Brahmacharya (Maß halten).

Diese Bewusstseinsfelder können für sich und miteinander verbunden eine fundamentale Befreiung im Leben bewirken. Anders herum: wer meint, darauf verzichten zu können und in den erlernten Mustern weitermacht, wird langfristig wenig Erfolg in der Yogapraxis haben und diese früher oder später aufgeben.

Alle Religionen predigen Gewaltlosigkeit, aber wir Menschen sind gewalttätig

Kinder prügeln sich auf dem Schulhof, die mächtigsten Nationen der Welt schleifen eine Blutspur hinter sich her. Gewalt und Grausamkeit sind tief in unserem (kollektiven) Gedächtnis verankert. Aggression ist womöglich unser größter Antrieb. Wut ist eine schöne Energie, die Berge versetzen kann, wenn es einem gelingt, die Energie dieser Wut positiv, also gewaltlos zu nutzen: Ahimsa.

Wir brauchen Mut, um in unserer Welt Satya, Wahrhaftigkeit zu realisieren

Genauso wie unser Leben ganz praktisch und pragmatisch mit nützlichen Fiktionen (Namen, Glaubenssätzen, Geboten) funktioniert, so klappt dort auch kurzfristig (und wir Menschen wollen meistens schnelle Ergebnisse, Bedeutsamkeit und Erfolg) alles irgendwie etwas besser mit ein bisschen Unwahrheit und Berechnung. Ich zeige meine Schokoladenseite, vergebe meine Likes, wenn mir das einen Vorteil verschafft, wäge immer zuerst den Nutzen ab, den mir eine Handlung für mich bringt. Man eckt nicht an und bringt irgendwie seine Schäfchen ins Trockene. Wir wollen mitmischen, unseren Teil vom Kuchen, unsere Egos haben Angst unterzugehen und wir spielen unsere Rolle. Freuen wie ein Kind kann sich hier dann niemand mehr. Am Ende bringt Unwahrheit Gewalt mit sich.

Wie unterstütze ich meine Wahrhaftigkeit und die Fähigkeit auch mal „Nein“ zu sagen?

Patanjali gibt uns hier Aparigraha: Nichts haben wollen, was man nicht braucht. Nicht das dicke Auto vom Nachbarn, nicht den perfekt proportionierten Körper der Person neben einem im Yogaraum. Nein, Danke. Plötzlich kann man es sich leisten, zu sich selbst zu stehen. Eine Selbst-Liebe (die Wurzel aller Gewalttätigkeit ist eine Gewalttätigkeit gegen sich selbst), eine Selbst-Achtung zu genießen, die nicht auf dem Beherrschen, dem Bestimmen, dem Besser-sein aufbaut, im Gegenteil. Unsere Selbstachtung freut sich, wenn Andere, alle Wesen auch diese Selbst-Liebe und Selbst-Achtung teilen und genießen. Om Sat Chit Ananda: das Wesen des Bewusstseins ist die Wonne.

Damit dies alles noch realistisch bleibt, empfiehlt Patanjali das Prinzip von Brahmacharya: das richtige Maß finden. Was kann ich? Was brauche ich? Wer inspiriert mich, wer demotiviert mich? Was scheint mir realistisch in meinem Streben? Wieviel kann ich aushalten? Wo ist die Grenze, hinter der meine Ziele eventuell fanatisch werden oder unerfüllbar oder zu lasch? Brahmacharya wurde ursprünglich mit Enthaltsamkeit übersetzt, geht aber viel weiter darüber hinaus. Es beschreibt vielmehr die Kunst des Energie-Sparens, des Balance-Findens zwischen zu Wenig und zu Viel, die Kunst, die uns den langen Atem gibt, den wir für unseren Erfolg im Yoga gebrauchen können.

Ja, das sind hohe Ziele. Es mag schwer sein, sie zu erreichen, so schwer, dass manche Person (mit dem Glaubenssatz: „bringt ja doch nichts“) die ganze schöne Yoga-Praxis aufgibt. Auch dies wusste Patanjali bereits vor 2000 Jahren und er weist mehrmals in den Sutras darauf hin, dass diese Ziele nur schrittweise erreicht werden können, nur durch das Üben über einen langen Zeitraum. Dabei reicht es manchmal schon allein, über seine Empfehlungen nachzudenken und zu meditieren. Ich bin sicher, dass sich nach einer Weile bei der Übenden etwas verändern wird. Wirklich wirksam werden die Sutras, wenn man einen sehr persönlichen Zugang zu ihnen schafft und sie ganz simpel, praktisch auf sich selbst und die eigene Situation, ohne irgendwelche Absolutheitsansprüche anwendet.