Wer war Patanjali?

Traditionell wird in verschiedenen Yogarichtungen vor der Praxis die Anrufung an Patanjali gesungen, um sich auf das Üben einzustimmen. Wer war Patanjali?

Eine mythische Figur, die vor 2000 Jahren die Yoga-Sutras geschrieben hat. Historisch werden es womöglich einige, verschiedene Gurus gewesen sein.

Die Ikone Patanjalis zeigt ein Mischwesen, halb Schlange, halb Mensch, mit vier Armen. Zwei seiner Hände legt Patanjali vorm Herzen aneinander. Die anderen beiden Hände halten ein Muschelhorn und eine Wurfscheibe (Diskus). Der Ur-Yogi gilt als Reinkarnation der Schlange Adisea, die zum Hindugott Vishnu gehört. Die Muschelschale symbolisiert traditionell ein Horn das zum Kampf bläst und böse Geister vertreibt. Ebenso steht die Muschel als Symbol für die weibliche Kraft, das Entstehen, im Buddhismus für das Erwachen. Der Diskus symbolisiert das Rad, den Zyklus des Lebens.

Das wichtigste Werk, Patanjali zugeschrieben wird, ist ein Handbuch, ein Leitfaden mit dem Titel „Die Yoga-Sutras“. In 196 Sanskrit-Versen geht es um die Sichtweisen des Yoga. Patanjali nimmt uns auf eine Reise mit und gibt uns Einsichten, wie wir mit unserer Praxis den „Zustand von Yoga“ in uns wachsen lassen können. Dabei sind die Verse in ihrer reinen Form zu knapp und verdichtet, um ihnen leicht folgen zu können, weswegen es heute verschiedene kommentierte Ausgaben gibt.

Was ist der Zustand von Yoga? Wie erkennen wir, dass wir mit unserer Yoga-Praxis Fortschritte machen? Beispiele: Wir werden innerlich gelassener, fühlen uns in unserer Existenz wohl. Wir überwinden innere Enge und weiten unserer Komfortzone aus. Wir sind entspannter mit unseren Mitmenschen. Wir entfalten unser Potential mehr. Wir können wirklich im Moment sein. Wir erleben, verstehen tiefer, kommen heraus aus den Kategorien und dem Kopfkino. Wir können unterscheiden zwischen dem, was vergänglich ist und dem was ewig währt. Ein tiefes Gefühl von bedingungsloser innerer Freiheit und innerem Frieden. Klingt toll!

Was hält uns davon ab, diesen Zustand zu erreichen? Es sind die Trübungen unseres Geistes (die Klesha), ein Nicht-Verstehen, ein gefangen-Sein in den Fiktionen des Egos, die ständig in uns wirken und unser handeln unharmonisch machen. Hierauf geht Patanjali am Anfang seiner Yoga-Sutras ein. Frappierend an dem Text ist, wie aktuell er heute immer noch ist.

Der Text beginnt mit einer Beschreibung des Geisteszustands von Yoga: 1.2.: Yoga Citta Vrrtti Nirodha: Yoga ist das zur Ruhe kommen der Fluktuationen im Geist, daraus erwächst die Fähigkeit, sich ausschließlich auf einen bestimmten Inhalt auszurichten und in dieser Ausrichtung ohne Ablenkung zu verweilen. 1.3: Tadah drastuh svarupe vasthanam: Dann scheint in uns die Fähigkeit auf, etwas vollständig und richtig zu erkennen. Vorgefasste Meinungen, Glaubenssätze und Konzepte können freigelassen werden. Wir werden offen, empfänglich und intuitiv. 1.4. Vritti sarupya mitaratratra: Normalerweise überschatten Konzepte unseres Geistes die Fähigkeit, etwas wirklich zu verstehen.

Stellt euch einen Pilgerort wie Montserrat oder Santiago de Compostela vor, die Wallfahrtskirche in Birnau, Stonehenge, Macchu Pichu et cetera. Da kommt morgens eine Busladung voller Pauschaltouristen an. Alle steigen polternd aus und ziehen ihr Programm ab. Früher habe ich mich über solche Leute geärgert, heute schmunzele ich, denn ich bin ja auch so, mein Geist verhält sich in allen möglichen Situationen entsprechend: Bevor ich mich auf etwas Unbekanntes einlassen kann, meldet sich mein Ego, kommentiert und bewertet, braucht dies und das (das Selfie, den Souvenirladen…), und schwupps ist der Moment schon vorbei.

Das Ego ist überlebensnotwendig. Es ist die Fähigkeit unserer linken Gehirnhälfte, zu analysieren, voneinander zu trennen, zu bewerten, entscheiden und zu erinnern. Der normale Mensch identifiziert sich zu 100% mit dem Ego. Das Ego braucht ständig etwas. Wie die Augen, die nicht lange ruhig auf einen Punkt ausgerichtet bleiben, springen den Gedanken wie Affen von Baum zu Baum. Das Ego hat immer Angst zu sterben (und es ist womöglich auch der einzige Teil von uns, der stirbt, wenn wir sterben). Es ist ein überlebenswichtiges Instrument unserer Existenz, aber der Knackpunkt ist, dass es nicht unsere Existenz ist. Mit dem Bewusstsein von Yoga können wir in der Lage sein, diesen Teil unserer Wahrnehmung zu dem zu benutzen, wofür er gemacht ist, wozu er dient. Meistens ist es anders herum: Das Ego beherrscht uns, es ist sehr geschickt. Der Butler hat die Kontrolle vom Schloss übernommen und kommandiert die Königin (den König) herum.

Das Bewusstsein (Sanskrit: Citta) vergleicht Patanjali mit einer Linse. Die Seele, der große Geist, der Beobachter schaut durch die Linse und sieht durch sie die Objekte der Welt. Das Licht des ewigen Bewusstseins (Purusha / Shiva) scheint durch diese Linse in die Welt hinaus. Wenn der Mensch diese Linse nicht sauber hält, seine geistigen Trübungen nicht klärt, wird sie staubig. Dann wird klares Denken und Handeln schwerer. Der Beobachter verschwindet, unser Handeln ist nur noch reaktiv und nicht mehr wirklich kreativ. Mit Yoga bekommen wir eine Chance, das ganze Meinungs- und Bescheid-Wissen-Denken in uns zur Ruhe zu bringen, um den Geist empfänglich zu machen, für Intelligenz, Intuition, Holistik, Gotteserfahrung.