Abhyasa und Vairagya

Sonnenuntergang in Kerala, Indien

Yoga ist ein Weg der Mitte

Das Wort Yoga beschreibt zwei Dinge: einen Zustand und eine Übungspraxis. Sie gehen fließend ineinander über, sind Henne und Ei. Wenn ich nach einer gelungenen Übungspraxis ein Gefühl von Verbundenheit und Weite habe, von Leichtigkeit und Freude, innerer Ruhe und Sicherheit, dann motiviert mich dies, diese Praxis fortzuführen. Und nur mit kontinuierlichem Üben kann ich den Zustand von Yoga wirklich in mein Leben integrieren.

Durch Üben und durch Loslassen, mit passender Anstrengung und mit Akzeptanz können wir den Zustand von Yoga erreichen. Dies schrieb der Ur-Yogi Patanjali vor rund zweitausend Jahren in seinen weltberühmten Yoga-Sutras, ein noch heute gültiges Kompendium des Yogas. Die alten yogischen Schriften, darunter die Bhagavad Gita und die Yoga-Sutras geben uns ganz konkrete und praktische Hinweise, wie Yoga gelingen kann. Yoga entsteht im Spannungsfeld von Ausdauer, Disziplin, kontinuierlicher Bemühung einerseits und andererseits mit Gelassenheit, Vertrauen und Annahme. Die yogischen Begriffe dafür sind Abhyasa und Vairagya.

Wenn Abhyasa und Vairagya sich miteinander verbinden, kann die Praxis Früchte tragen.

Was für ein Mensch bist du? Bist du sehr leistungsorientiert und hast Schwierigkeiten damit, dich selbst so anzunehmen wie du bist? Oder bist du grundsätzlich immer mit dir zufrieden und vermeidest gern jede Anstrengung und Mühe? Wahrscheinlich irgend etwas dazwischen. Und genau darum geht es. Yoga ist ein Weg der Mitte, der Balance. Yoga ist die Verbindung von Polaritäten: Sonne und Mond, Yin und Yang.

Unsere heutige Welt ist sehr wettbewerbsorientiert und es gibt in ihr viele zu bemängelnde Missstände. Mit Yoga können wir den Geist auf Positives ausrichten. Das ist kein Selbstgänger, wir brauchen dafür Abhyasa. Egal wie intensiv wir die High-Vibes kultivieren: die Welt, die Außenwelt und die Innenwelt bestehen nicht nur aus Schönem und Guten. Das zu akzeptieren und nicht daran zu verzweifeln ist Vairagya – erfordert Entschlossenheit und Mut.

Einige Yoga-Anfänger suchen beim Üben vor allem nach Entspannung und wundern sich, dass ohne Anstrengung gar keine wirkliche Entspannung möglich ist. Das Grundprinzip des Yogas ist ja, in die Balance (zurück) zu finden. Wir üben Kraft, Ausdauer, Flexibilität, Koordination, Achtsamkeit und natürlich auch Entspannung, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn wir mit einem althergebrachten Verständnis von „Disziplin“ und „Entspannung“ an die Yoga-Übungen und -Haltungen gehen, dann geht es uns normalerweise um etwas Externes. Wir tun etwas und erwarten dafür eine Gegenleistung. So war es in der Schule, so ist es in den meisten Berufen. Yoga funktioniert aber nicht so.

Beim Yoga möchten wir vielmehr eine Beziehung zu uns selbst eingehen und diese Beziehung, die Begegnung mit uns selbst pflegen wie einen Garten. Am Ende hängt das Resultat nicht von unserem Willen ab. Wenn wir loslassen können und nicht mehr am Resultat unserer Handlungen kleben, dann können höhere Mächte mitwirken, dann können wir ins Herz des Yogas vordringen, dann könnte etwas entstehen, das wir uns nie zu träumen gewagt hatten. Nur Loslassen, nur akzeptieren und annehmen reicht natürlich aber auch nicht. Es muss Kraft dahinter liegen, Wille und Disziplin, um nicht in Lethargie oder Fatalismus zu verfallen. Grundbedingungen für ein solches Umarmen der Gegensätze sind eine positive Lebenseinstellung, Offenheit, eine unvoreingenommene Haltung mir selbst und den Anderen gegenüber. Und genau diese Qualitäten können mit Yoga entstehen.