Die Bhavanas – Qualitäten des Herzens

Herzensqualität

Yoga und Buddhismus haben eine gemeinsame Wurzel – der Zeitgeist Indiens brachte vor Jahrtausenden diese beiden Systeme hervor.

Entsprechend gibt es einige Überschneidungen in den Sichtweisen und im Vokabular von Yogis und Buddhisten: Beide sprechen vom Karma als dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Beide propagieren das Loslassen der Anhaftungen. Und wie im Folgenden beschrieben, gibt es sowohl im Buddhismus als auch im Yoga die „vier Herzensqualitäten“. Die Yogis nennen sie die vier Bhavanas, übersetzt: heilsame innere Bilder.

Patanjali beschreibt im Abschnitt 1.33 seiner Yoga-Sutras diese vier heilsamen Bilder :

Maitri: eine freundliche, liebevolle, zugewandte Haltung sich selbst und Anderen gegenüber.

Karuna: die Entfaltung von Empathie, sowohl für das eigene Leben, Geworden-Sein und das der Anderen. Yoga stärkt unser Einfühlungsvermögen in Andere.

Mudita: eine Begeisterungsfähigkeit für den Erfolg, das Glück, die positive Entwicklung von uns selbst und den Anderen.

Upeksha: die Fähigkeit zu Geduld und Nachsicht, Gleichmut und Fehlerfreundlichkeit bei eigenen Rückfällen oder bei nicht so schönem Verhalten anderer.

Diese Qualitäten des Herzens in guten wie in schlechten Zeiten zu kultivieren, verwandele den inneren Wahrnehmungsraum (Citta) und führe in eine Realität voll heiliger Klarheit, so Patanjali. „Da hat er gut reden. Wer kann sich denn – gerade jetzt – so viel Großmut leisten? Ich brauche hier keine Moralpredigt. Soll ich mich jetzt auch mitfreuen, wenn das gegnerische Team gewinnt? Gleich ertappt man sich wieder in der Enge, im Leiden (Dukha), im Überlebensmodus. Warum eigentlich?

Die Gehirnforschung geht heute davon aus, dass es so etwas wie eine objektive Wahrnehmung nicht gibt. Wenn du und ich vom Aussichtsturm herunterblicken, werden uns die Sehzentren in den Okzipitallappen unserer Gehirne unterschiedliche Bilder zeigen. Die Koordination, Verarbeitung und Interpretation der Sinnesinformation läuft unterschiedlich ab. Warum ein bestimmter Geruch, (ganz unmittelbar) diese oder jene Assoziation weckt, hängt von unseren individuellen Erfahrungen ab. Das Gehirn sucht sich das aus, was mit dem bereits Erlebten und Gelernten zusammenpasst. Die gute Nachricht: das Gehirn ist in der Lage, seine Verschaltungen zu verändern, auch noch in hohem Alter. Neuroplastizität nennt die Gehirnforschung diesen Vorgang.

Auf einem meiner Studienaufenthalte beim Yoga-Institut von BKS Iyengar in Pune, Indien verbrachte ich einmal viel Zeit mit einer Amerikanerin. Jedes Mal, wenn wir spazieren gingen, wurden wir – beziehungsweise sie – von Indern umringt, vor allem von Kindern, die mit ihr sprechen, sie etwas fragen, etwas haben, ihr Handy anschauen oder sonst was wollten. Es verging manchmal viel Zeit, bis wir weitergehen konnten, und ich war immer wieder verblüfft, mit welcher Geduld, lächelnd und zugewandt Amber diese Situationen…ja, was? Erlebte, meisterte, durchstand oder gar genoss? Sie wirkte ganz entspannt, während ich mit meiner „Überzeugung“ kämpfte, dass solch aufdringliches Verhalten gar nicht gehe und war völlig genervt, eifersüchtig, wütend und überfordert. Heute weiß ich, dass diese Yogini mir damals eine Lehrstunde in Bhavanas gab. Gern erinnere ich mich an ihre Inspiration.

Weil ich es mir wert bin – die Bhavanas als Erfahrung der Großzügigkeit

Warum reagieren wir so wie wir reagieren? Warum denken wir so wie wir denken? In meiner Erfahrung ist die Wahrheit da auch mal wieder paradox: Einerseits sind wir diese herzensguten, empathischen, begeisterungsfähigen und gleichmütigen Wesen. Niemand könnte widerlegen, dass die Bhavanas schon in uns angelegt sind. Und auch das Gegenteil ist wahr. Wenn wir neidisch sind und ängstlich, abweisend, wenn wir uns mitreißen lassen von unseren Gefühlen, dann ist das auch natürlich und authentisch. Unsere Kleshas, unsere Samskaras, unsere Umwelt verlangen es uns ab, dass wir das Leiden kennen. Zwei Kehrseiten einer Medaille. Also geht es hier nicht darum zu sagen, das darf nicht sein, das soll aber sein. Moralisch kommen wir da nicht weiter. Die Yogis empfehlen zu überlegen, wo man sich wohler fühlt. Wo man mehr in sein Potential kommt. Wo man mag, was die Umwelt einem spiegelt. Der Yoga empfiehlt, sich da wohlwollend selbst zu beobachten, die innere Zeugin, den inneren Zeugen, Purusha aufzurufen.

Im Hatha-Yoga nehmen wir den Körper als Erfahrungsraum. In der Sicht weise des Hatha Yogas ist der Körper der einfachste Ort, an dem wir Erfahrungen machen können, ein „Ort der Wahrheit“. Die Tore zum Herzraum sind unsere Schultern. Sehr viele Yoga-Asanas und Vinyasas zielen auf die Kräftigung der Schultern ab. Stabile und flexible Schultern können uns ein Gefühl von Ermächtigung geben. Wenn durch die offenen, stabilen Eingangspforten mehr Energie, mehr Prana in den Herzraum strömt, können wir die Bhavanas, diese spirituellen Fähigkeiten leichter erkennen, lernen, akzeptieren, machen und leben. Es ist kühn, die Nachsicht zu kultivieren, um sich gewaltfrei von Menschen abzugrenzen, deren Weg ein ganz anderer, deren Theater und Drama ein ganz anderes ist. Probiert es aus. Mitfreude anstelle von Neid kann man kultivieren, wenn man Anderen eine Freude macht.

Manchmal entsteht der Eindruck, dass Yoga gegen den Verstand sei. Das ist aber ein Trugschluss. Yoga möchte das Denken, den Verstand kristallklar machen, zu einem perfekten Werkzeug. Zum Verstand gehören die Logik und die Erinnerung. Erinnere dich daran: Jeder deiner Gedanken erreicht zuerst dich selbst. Egal, ob dieser Gedanke „sinnvoll“, angemessen, gerecht oder sonst was sein mag, egal, was wir damit bezwecken. Das ist logisch, jede Person kann dies in jedem Moment bemerken. Wenn dies also so ist, dann sind wir also in einer ewigen Kettenreaktion (von Gefühl-Gedanke-Wort-und-Handlung/ Gefühl, et cetera) immer zuerst unsere eigene Projektionsfläche, unsere eigene Zielscheibe.

Mit Yoga können wir die Gedanken zur Ruhe bringen und auf den Grund unserer Gefühle blicken. Es ist ganz wichtig, dass wir die Bhavanas, die vier Herzqualitäten zuerst bei uns selbst anwenden können. Selbst-Liebe, Einfühlung in die eigenen Stimmungen und Gefühle, sich selbst loben, bei Aussetzern und Fehlern geduldig und wohlwollend bleiben. Nur wenn wir uns selbst gegenüber die „heilsamen Bilder“ realisieren, können wir sie authentisch in unsere Umwelt tragen. Ansonsten wäre es Blablabla statt Bhavana, vordergründig moralisch und Heuchelei.

Gefühle, Gedanken, Worte und Taten sind Energie – und Energie lässt sich bekanntlich nicht zerstören – aber umwandeln. Unser Bewusstsein sei nicht im Körper, sondern der Körper im Bewusstsein, sagt Osho. Beim Loslassen alter, unüberprüfter Muster und Glaubenssätze kann uns Yoga erden und Klarheit geben. Die Alchemie des Yogas, das Feuer, das Licht, die Kraft unserer Übung kann die alten Verschaltungen ausstöpseln, die Vorzeichen unserer Gedanken verändern, sie auf Harmonie und Heilung ausrichten. Gerade jetzt!